(3) Beeren

Ein letzter Versuch: Sölva streckte sich. Das Moos war nur noch wenige Zoll von ihren Fingerspitzen entfernt. Wenn sie jetzt … Ein Knirschen, als das Geröll unter ihren Füßen wegzusacken begann. Mit klopfendem Herzen hielt sie inne. – Nein. Es war zu gefährlich. Das Moos blieb unerreichbar.

Ein Rascheln. Ein Ächzen. Im nächsten Moment wurde ein Schatten zwischen den Felsen sichtbar.

„Und?“, erkundigte sich Terve, als sie mit einem schweren Ausatmen an ihrer Seite innehielt. „Irgendwelche Beeren entdeckt? Nein? Ich auch nicht. – Wir sollen nach den roten Ausschau halten, sagt Tanoth. Die schmecken irgendwann süß, wenn man sie lange genug kaut.“

„Kauen? Tanoth hat keinen einzigen Zahn mehr im Mund!“, brummte Sölva.

„Aber sie ist eine Hexe“, erwiderte ihre Freundin mit ernster Stimme. „Hexen können wochenlang ohne einen Happen zu essen auskommen vor einem ihrer Rituale. Heißt es. Was, wenn sie gar keine Zähne braucht?“

„Wahrscheinlich hat sie sich einfach daran erinnert, wie es war, als sie noch Zähne hatte.“ Ganz langsam begannen sich Sölvas verkrampfte Muskeln zu lockern. Vorsichtig rieb sie ihre aufgeschürften Handflächen. Im selben Augenblick meldete sich ihr Magen in einer Lautstärke, dass sie das Gefühl hatte, das Geräusch müsste von den Bergen auf der anderen Seite des Talkessels widerhallen. „Irgendwann muss sie mal Zähne gehabt haben“, murmelte sie. „Vor zwanzig Jahren. Ungefähr so lange, wie es her ist, dass wir etwas zu essen bekommen haben.“

„Das ist ungefähr zwei Wochen her.“ Terves Miene blieb ernst. „Als sie die Zugpferde geschlachtet haben. Dorgat hat mir etwas von seinem Anteil abgegeben, doch inzwischen bekommen die Eisernen selbst so wenig, dass sie kaum noch zurechtkommen. – Aber du hast es natürlich gut“, seufzte Terve. „Als Tochter des Hetmanns.“

Ganz langsam drehte Sölva den Kopf zu ihr herum. „Gut? Denkst du, ich würde hier oben herumklettern, wenn ich im Lager etwas zu essen bekäme?“ Unwillig nickte sie mit dem Kopf nach hinten. „Ich bekomme so viel wie alle anderen. Die Suppe am Abend, mehr nicht. Die einzigen, die mehr kriegen, sind die Eisernen.“

Überrascht hob Terve die Augenbrauen. Nachdenklich kaute sie auf ihrer Unterlippe, doch dann mit einem Mal veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Ihre Hand glitt in ihren Kittel, kam mit geschlossener Faust wieder hervor, den Handrücken nach oben. Einen Moment schien sie zu zögern, dann drehte sie die Hand, öffnete die Finger. „Für dich“, murmelte sie.

Sölva riss die Augen auf. „Beeren! Die roten!“ Es waren nicht viele, doch prall und leuchtend funkelten sie das Mädchen an. Dann aber blinzelte Sölva. „Aber du hast doch gesagt …“

„Ich habe sie nicht gefunden!“ Eilig wehrte ihre Freundin ab. „Ich bin gestolpert. Also …“ Ein unbestimmtes Nicken. „Da unten. Die Stelle liegt im Schatten, jedenfalls um diese Tageszeit. Nachmittags muss sie voll in der Sonne liegen. Ich bin mitten reingefallen.“ Umständlich versuchte sie die Rückseite ihres Kittels in Augenschein zu nehmen. Es war ein gutes Stück aus gebleichter Wolle, der Saum mit farbiger Borte eingefasst. „Da waren noch mehr davon. Ich hab noch welche für mich“, versicherte sie und klopfte vorsichtig auf die Tasche, die auf das Gewebe aufgesetzt war. „Sie schmecken tatsächlich süß“, schloss sie schwach. „Aber man muss sehr lange kauen.“