(2) Gewitterstimmung

Schwüle lag in den Gassen von Carcosa. Ein Zustand, der den Bewohnern vertraut war. Zumindest was die Bewohner der labyrinthischen Elendsviertel anbetraf, der Unterstadt, wo der Dunst der nahen Sümpfe schon an einem ganz gewöhnlichen Frühlingstag das Atmen zur Qual werden ließ.

An diesem Nachmittag aber war selbst auf dem schroffen Felsen der Oberstadt die feuchte Hitze zu spüren. Der Himmel war von bleierner Farbe. Ein Schleier schien über der Stadt zu liegen, der nicht mehr als eine Ahnung von Sonnenlicht hindurchließ, matt und stechend zugleich. Nicht die schwächste Brise regte sich zwischen den Kuppeln der Tempel, den aufragenden Giebeln der Bürgerhäuser, den Türmen der Stadtbefestigung. Auf der Zitadelle des Hohen Rates hingen die Banner schlaff von ihren Masten.

Carcosas Bürger begegneten der Hitze auf ganz unterschiedliche Weise. Viele von ihnen waren bereits vor dem Mittag zum Platz der Götter aufgebrochen, der sich nun Stunde um Stunde füllte. Die anderen aber verharrten in der Kühle ihrer Häuser, übermannt von bleierner Schwäche, in der bewegungslosen Luft reglos auf ihre Lager gestreckt.

So kam es, dass nur wenige Menschen das Phänomen zur Kenntnis nahmen. Die einzigen waren vermutlich die gepanzerten Gardisten des Hohen Rates zwischen den höchsten Zinnen der Zitadelle. Wenn sie über die Hafenquartiere hinweg auf die glatte Fläche des Westlichen Meeres spähten, konnten sie feststellen, dass hoch in den Lüften sehr wohl Bewegung war. In einer breiten Front quer über den Horizont waren im Grau der Wolken Inseln von noch dunklerer Farbe zu erkennen. Inseln, die sich dehnten und zusammenzogen wie atmende, lebende Wesen.

Was noch kein Anlass zu besonderer Sorge war. Der mächtige Felsen der Stadt erhob sich am Rande des Westlichen Meeres, und über dem Ozean waren zuweilen die absonderlichsten Vorgänge zu beobachten. Nicht einmal der Umstand, dass das Phänomen sich der Stadt zu nähern schien, musste die Bewohner in Unruhe stürzen. Die gezackte Linie der Singenden Inseln war vor dem veränderlichen Grau eben noch auszumachen. Ein natürlicher Schutz gegen die Stürme, die in der dunkleren Hälfte des Jahres über das Westliche Meer heranjagten. Wäre da nicht ein winziges Detail gewesen.

Das Phänomen näherte sich nicht von Westen. Es näherte sich von Süden.

Die Bucht zwischen der Inselkette und dem sumpfigen Land um Carcosa bildete einen gigantischen natürlichen Hafen. Diese Gunst der Natur hatte die Stadt wohlhabend gemacht. Hier befand sich der einzige Ankerplatz auf der Festlandseite, und Seefahrer von diesseits wie jenseits des Leuchtfeuers von Pharos sandten stille Gebete gen Himmel, wenn die Molen und Hafenbecken in Sicht kamen. Gebete die sich in lautstarke Flüche verwandelten, sobald die Zolleinnehmer an Bord kamen.

Und dennoch: Wenn der edle Adorno und die Mächtigen seines Rates von ihren Zinnen hinabblickten, konnten sie sich dem Gefühl hingeben, alles sei wie ehedem, als die Binnensegler mit der frisch erworbenen Ware den Lysander hinaufgefahren waren bis an die Handelswege nach Tranto und Vidin, ja, in die Rabenstadt. Als wäre Carcosa noch immer die wohlhabendste Stadt des Kaiserreichs. Als hätte Vendosa am Südlichen Meer ihm nicht längst den Rang abgelaufen und die so stolze Stadt in einen bloßen Zwischenhalt verwandelt. Schiffe liefen den Hafen an, um Wasser und Vorräte aufzufüllen oder Schutz zu suchen vor den Stürmen auf der offenen See.

Stürmen, die von Westen kamen und an den zerklüfteten Küsten der Singenden Inseln ihre Kraft erschöpften. In der alten Zeit hatte es fast überhaupt keine Winde aus anderen Richtungen gegeben. Erst in den letzten Jahren hatte sich eine Veränderung eingestellt. Über Wochen hinweg hielt nun zuweilen der Regen an, wenn er von Osten über das Land trieb, verwandelte das fruchtbare Land jenseits der Stadt in Sümpfe, schwemmte die Felder und Behausungen der Siedler davon. Bis den einst stolzen Bauerngeschlechtern nichts anderes blieb, als sich dem wachsenden Heer der Armen anzuschließen, im Gewirr der Unterstadt von Carcosa, in der Hoffnung auf Obdach, auf Brot. Die Zeiten waren dunkler geworden, in jeder Beziehung. In diesem Sommer hatte die Stadt zum ersten Mal in ihrer Geschichte Getreide einführen müssen.

Einen echten, schweren Sturm aber hatte Carcosa seit Menschengedenken nicht erlebt. Sie hatten verlernt, die Anzeichen zu erkennen, die ein großes Unwetter vor sich her sandte. Eine Magd im Hause des Knochenhauermeisters mochte den Kopf schütteln, dass die frische Milch in der geschützten Kammer binnen Stunden verdorben war. Ein greiser Veteran der Kriege gegen die Korsaren mochte verhalten stöhnen, wenn sich Jahrzehnte alte Narben in ungewohnter Heftigkeit bemerkbar machten. Die Erschöpfung, die die Menschen auf ihre Lager bannte, die summende Unruhe, die sie auf den Platz der Götter trieb, in ungewöhnlich großer Zahl. Die Zeichen waren da, doch niemand vermochte sie zu deuten.